Brassaï und die Drehtür von Paris

Er war Nachtschwärmer und Tagträumer, Fotograf und gleichzeitig Surrealist, Ungar und doch Franzose: Brassaï vereint in seinen Werken Gegensätze, die auf den zweiten Blick gar nicht so gegensätzlich sind und dennoch polarisieren.

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Poet Léon-Paul Fargue, George Brassaï, Silberdruck, Paris, 1933[1]

Ein Mann sitzt nachts im Park auf einer Bank und schaut grimmig in die Kamera. Das ist Kunst? Brassaïs Foto wirkt eher wie ein Paparazzi-Bild. Als ob der Fotograf beim Spazieren im Park an dem Mann vorbeiging – kurz inne hielt – ihn spontan fotografierte und beim Anblick seines Gegenübers wieder schnell verschwindet.

Wahrscheinlich wäre es so abgelaufen, wenn sich die beiden nicht gekannt hätten. Der Mann auf der Bank war Léon-Paul Fargue, ein französischer Dichter und Freund von Brassaï. Die ernsthafte Mimik des Dichters spiegelt sich auch in seinen Texten wider. Der deutsche Historiker Walter Naumann beschreibt Fargues Werke als melancholisch und erkennt in ihnen eine „starke sentimentale Sensibilität“.[2]

Die amerikanische Kunsthistorikerin Rosalind Krauss sieht in Fargues Körperhaltung eine Polarität, die Brassaï vor allem durch die Belichtung erzeugt. Die belichteten Partien des Körpers, von Kopf bis Knie, stechen hervor und sind stärker zum Hintergrund abgegrenzt wie der Rest des Körpers. Damit unterstreichen die Lichtverhältnisse auch die kompositorische Strenge der Fotografie. Fargue sitzt starr, seine Haltung wirkt wie in einem gemalten Porträt. Der untere Teil von Fargues Körper, beginnend bei seinen Knien, ist hingegen kaum belichtet und geht fließend über in die verschwommene Silhouette der Schatten. Krauss macht darauf aufmerksam, dass diese Schatten als Dublette den eigentlichen Körper verzerrt zeigen.[3] Metaphorisch gesehen ist der Schatten nicht nur ein visuelles Zerrbild des Körpers. Der Schatten ist – wie die Nacht zum Tag – die zweite Seite des Subjekts.

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Liebespaar auf dem Place d’Italie, George Brassaï, Silberdruck, Paris, 1932[4]

Warum fotografierte Brassaï vor allem nachts – was faszinierte ihn an der Dunkelheit? Briefe aus seiner Studienzeit geben einen Einblick in seine Gedankenwelt: Von 1920 bis in die 1940er Jahre schrieb Brassaï regelmäßig an seine Eltern und veröffentlichte später diese Briefe in einem Buch. Darin schildert er Gedanken, Zweifel, Pläne und Erlebnisse während seiner Zeit in Berlin und Paris. Brassaï entwickelte im Laufe der Jahre eine Faszination für das Nachtleben in der Großstadt. Er fotografierte Liebespaare, Katzen, Polizisten, Prostituierte und Boulevardplätze.[5] Und dabei war die Kamera für Brassaï die beste Möglichkeit diese Momentaufnahmen festzuhalten:

From the moment I realized that the camera was capable of capturing the beauty of Parisian                    night (that beauty with which I had fallen passionately in love during my bohemian adventures), I persued photography solely for my own enjoyment.“[6]

 Er zeigte eine Seite von Paris, wie sie tagsüber nicht sichtbar war. Er schaffte es, das Unbewusste zu zeigen.[7]

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Pont Neuf bei Nacht, George Brassaï, Silberdruck, Paris, 1936[8]

Besonders diese zweite Seite der Orte und Menschen in Paris machen Brassaïs Werke surreal. Der deutsche Philosoph Walter Benjamin vergleicht die Photographie der Surrealisten mit einer Drehtür. Eine Drehtür, die dafür steht, dass sie sich zwischen zwei Orten bewegt, dem inneren Ort und dem äußeren Ort. Jedoch weder geschlossen, noch geöffnet ist, sondern den einen mit dem anderen verbindet. Brassaï hält die Menschen fest, wie sie sich ausleben.[9] Die Nacht erlaubt eine Privatsphäre in der Dunkelheit der Stadt, die tagsüber nicht gegeben ist und gleichzeitig ist doch jede Bar und jeder Park ein öffentlich zugänglicher Ort. Brassaï verwendet Licht und Schatten um eine Atmosphäre zwischen privat und öffentlich, real und surreal zu zeigen.

Er schaffte es mit der Kamera, als ursprüngliches Abbildungswerkzeug des Realen, eine surreale Atmosphäre zu produzieren. Ein Gegensatz, der nun gar nicht mehr so gegensätzlich scheint. (Magdalena Kammler, dieKulturvermittlung, 30.04.2015)

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Magdalena Kammler ist eine Kulturjournalistin aus Berlin. Sie hat Kunstgeschichte an der Universität Wien und Kulturjournalismus an der UdK Berlin studiert und schrieb bereits für die Sächsische Zeitung, den Eulenspiegel und für die ATT des Deutschen Theaters.


Quellen:

[1] Krauss, Rosalind (1981): Nightwalkers. In: Art Journal, Vol. 4, Nr. 1, Photography and the Scholar/Critic, S. 33-38, S. 33

[2] vgl. Naumann, Walter (1943): Anmerkungen zur Dichtung von Léon-Paul Fargue. In: Modern Language Association, Vol. 58, No. 1, 1943, S. 289-308, S. 297

[3] vgl. Krauss, Rosalind (1981): Nightwalkers. In: Art Journal, Vol. 4, Nr. 1, Photography and the Scholar/Critic, S. 33-38, S. 33-34

[4] Krauss, Rosalind (1981): Nightwalkers. In: Art Journal, Vol. 4, Nr. 1, Photography and the Scholar/Critic, S. 33-38, S. 34

[5] vgl. Brassaï, George (1997): Letters to My Parents, Ausgabe 1997, Chicago Press, Chicago, S. 191

[6] Brassaï, George (1997): Letters to My Parents, Ausgabe 1997, Chicago Press, Chicago, S. xvii (Vorwort)

[7] vgl. Krauss, Rosalind (1981): Nightwalkers. In: Art Journal, Vol. 4, Nr. 1, Photography and the Scholar/Critic, S. 33-38, S. 33-34

[8] http://img.over-blog.com/450×283/0/18/21/95/Anciennes-PHOTOS/DIVERSES-Quais-de-Seine/Brassai-le-pont-neuf-1933.jpg

[9] vgl. Krauss, Rosalind (1981): Nightwalkers. In: Art Journal, Vol. 4, Nr. 1, Photography and the Scholar/Critic, S. 33-38, S. 33-34



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