Netzkultur
Als ich mit dem Gymnasium begann, bekamen wir Internet zu Hause. Wow! Ich kann mich noch an die Wählleitung erinnern, die direkt mit dem Telefonnetzwerk verbunden war. Gleichzeitig im Internet zu surfen und einen Telefonanruf zu erhalten war unmöglich. Damals waren die Menschen die meiste Zeit offline. Sie verbanden sich bloß ein paar Minuten mit dem Internet, um ihre E-Mails zu empfangen. Dann gingen sie offline und nahmen sich die Zeit zum Antworten. Erst im Anschluss gingen sie wieder online und schickten ihre Nachrichten ab. Ich zählte die Minuten, um die durchschnittliche Rechnung meiner Eltern zu schätzen: Online zu sein war verdammt teuer. Nur die Leute, die eine Standleitung[1] hatten, konnten durchgehend verbunden bleiben, da sich für sie der Preis nicht änderte. Aber dafür versäumten sie das Geräusch, welches das Modem machte, wenn es eine Internetverbindung aufbaute. Dieses dauerte circa 30 Sekunden und wurde von einer amüsanten Tonabfolge begleitet.[2] Wie aufregend das war!
Die ersten Sachen, die ich im Internet machte? Zum Beispiel Musik downloaden. Es konnte länger als 30 Minuten dauern einen Song herunterzuladen. Jeder sprach von MP3 und wie man eine 50 MB Audiodatei von einer CD zu 3 MB komprimierte. Ich erinnere mich an folgendes Gespräch, das ich mit einem Klassenkollegen führte:
– Gestern habe ich 2 neue MP3s heruntergeladen! Jetzt habe ich insgesamt 6!
– Cool! Ich glaube, dass ich schon mehr als 15 habe.
– Wirklich? Du bist verrückt!
Die genauen Zahlen habe ich vergessen, aber sie waren ungefähr so. Zumindest kann ich mich erinnern, dass ich meine weniger-als-10 MP3s in Dauerschleife hörte und diese dabei auswendig lernte. Zu dieser Zeit besaß ich ein paar CDs. Tatsächlich hatte ich also mehr Lieder, die ich mir anhören konnte, aber es war unterhaltsamer, die Lieder direkt vom Computer anzuhören. Und ich hatte wirklich Spaß daran, Lieder von unterschiedlichen Musikern anzuhören ohne, dass ich die CDs wechseln musste. Das Internet hat meinen Blick auf den Computer verändert: Nicht mehr länger handelte es sich um mich und eine Maschine, sondern um mich und DIE Maschine. Es war etwas sehr Besonderes, ein einziges Werkzeug so vielseitig zu verwenden: Hausaufgaben machen, Videospiele spielen, Informationen über alles suchen, kommunizieren, Musik anhören…nicht nur zeigte der Computer die Zeit an, es war auch möglich ihn mit einer Atomuhr, die sich irgendwo befand, zu synchronisieren.
Ich entdeckte auch eine neue Welt: Leute bauten Webseiten, erstellten Mailinglisten, bildeten Gemeinschaften um über die vielen Anwendungen dieser neuen Technologie zu diskutieren, teilten Wissen und verbreiteten Ideen. Die einen teilen ihre Backrezepte, die anderen ihre Bombenbauanleitungen. Es gibt Programme um mit Freunden zu chatten oder um sie auszuspionieren. Artikel, die dir Tipps geben, wie du ein Videospiel gewinnen kannst und andere, die dir erklären, wie du Kreditkartennummern stiehlst. Das ist Netzkultur wie ich sie entdeckte.
Jetzt kannst du dir denken, dass Netzkultur wie andere Kulturformen aus einem Overground und einem Underground besteht. Der Overground ist für jeden zugänglich. Typisch dafür stehen die Smileys, die wir beim Chatten und Nachrichtenschreiben verwenden. Vor diesen existierte die ASCII-Kunst, die Kunst, Dinge mit den Zeichen einer Tatstatur oder anderen speziellen Zeichen zu erstellen. Ich hatte zum Beispiel diese Figur am Anfang meiner E-Mail Signatur:[3]
\|/ (O o) -------------------------------.oOO--(_)--OOo.------------------------ | |
Es gibt viel kompliziertere Dinge, wie zum Beispiel das automatische Erstellen einer Mona Lisa von einem Bild[4], oder sogar einen Star Wars Film[5]. Manche Leute schreiben Programme, nicht um des Resultats Willens, sondern um den Code selbst schön ausschauen zu lassen. Komplizierte Programme zu schreiben um etwas Einfaches zu erhalten (Obfuskation), oder so wenig Befehlssätze wie möglich, idealerweise nur einen einzigen Satz (one-liner), zu verwenden, gehören auch zur Programmierkunst. Videospiele im Internet spielen, wenn es bei dir 20 Uhr am Abend, aber bei deinem Freund 8 Uhr in der Früh ist, ist ein weiterer Aspekt des Overgrounds. Früher spielte ich ein Computer-Rollenspiel (CRPG), als ich wirklich motiviert war, kam es vor, dass ich mir einen Wecker mitten in der Nacht stellte, spielte und mich dann wieder schlafen legte…
Der Underground ist sogar noch interessanter, da er im Schatten liegt und von Mysteriösem umgeben ist. Er wurde zu Beginn von der Cyberpunk-Bewegung inspiriert. Wenn du einige Science-Fiction Bücher von Isaac Asimov oder William Gibson[6], der übrigens den Begriff Cyberspace erfand, liest, werden dir Roboter und Cyborgs vertrauter. Blade Runner gehört zur Netzkultur, wie auch The 13th Floor, Matrix, Dark City und Inception. Vielleicht möchtest du mehr aus deinem Computer herausholen, dann lerne wie er funktioniert und versuche ihn so wie Jimi Hendrix zu benützen, der seine Gitarre mit den Zähnen spielte. Leute, die im Underground aktiv werden, brauchen normalerweise ein Pseudonym, um zwischen ihrem realen und virtuellen Leben zu unterscheiden. Es erlaubt auch (teilweise) anonym zu handeln, wenn sie jemals eine Webseite entstellen wollen (Kontrolle über einen Webserver übernehmen, um seine Homepages zu verändern), oder um sensible Artikel für ein e-zine (electronic magazine) zu schreiben. Manchmal bevorzugen sie Videos zu machen und eine Maske zu tragen.[7]
Die Geschichte des Personal Computing zeigt, dass Netzkultur zwei Seiten hat, welche eine Dualität ausdrückt, die nicht ignoriert werden kann. Zurück in den 60ern und 70ern wurde die Informationstechnologie von Hackern[8] und Phreakern (Leute, die, legal oder nicht, verrückte Sachen mit einem Computer und einem Telefonnetzwerk anstellen) angetrieben, die sich in Garagen trafen.[9] Das Arpanet, der Vorfahre des Internets, wurde vom US-Militär entwickelt.[10] Die Freie-und-Open-Source Software-Bewegung wurde im akademischen Kreis geboren.[11] Hackerspaces sind vereinende Räume, die Garagen unserer Zeit, wo Computer-Geeks Wissen teilen und alternative Sofware und Geräte der Zukunft erfinden.[12] Google glaubt an Transhumanismus: Wenn sie die Möglichkeit hätten, würden sie wahrscheinlich einen Terminator aus dir machen.[13] Whistle Blowers von den letzten Jahren erhielten öffentliche Aufmerksamkeit und zeigten deutlich, dass der Cyberspace gleichzeitig eine mächtige Waffe und ein Kriegsfeld ist, in welchem es schwierig ist, eine Seite zu wählen.[14]
Das ist Netzkultur. Sie ist komplex, wundervoll und böse. Manchmal wird sie missverstanden.[15] Nach dem Bild von uns allen. (Adrien, übers. von Anna, dieKulturvermittlung, 27.04.2015)
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Quellen und Verweise
[1] Standleitung mit einer permanenten high-speed Verbindung zu fixen Kosten pro Monat. Bevor ADSL in die Haushalte Einzug hielt, konnten sich das nur wenige Firmen leisten.
[2] Hör und lese darüber bei The Mechanics and Meaning of That Ol‘ Dial-Up Modem Sound.
[3] Während Anna diesen Artikel durchsah, erwähnte sie, dass die Figur in meiner E-Mail Signatur eine Geschichte und einen Namen hat. Etwas, was ich nie vermutet hätte.
[5] Star Wars Film als ASCII-Kunst
[6] Lese über William Gibson auf Wikipedia.
[7] Verweis auf die Guy-Fawkes-Maske, die von Anonymous getragen wird.
[8] Hacker sind oft symbolisch nach Hutfarben kategorisiert. Die verschiedenen Farben repräsentieren, für was sie ihre Fähigkeiten einsetzen und wo sie sich selbst in Bezug auf das Gesetz positionieren. Manchmal können sie mehrere Hüte auf einmal tragen.
[9] Mehr darüber erfährst du im Film The Secret History Of Hacking von Ralph Lee aus dem Jahr 2001.
[10] Erfahre mehr über das Arpanet auf Wikipedia.
[11] Lese Freie Software auf Wikipedia.
[12] Erfahre mehr über Hackerspace und Metalab (Wiener Hackerspace) auf Wikipedia.
[13] vgl. Cadwalladr, Carole (2014): Are the robots about to rise? Google’s new director of engineering thinks so…. In: The Guardian [WWW], http://www.theguardian.com/technology/2014/feb/22/robots-google-ray-kurzweil-terminator-singularity-artificial-intelligence/
[14] vgl. die Fälle WikiLeaks und Edward Snowden aus den Jahren 2010 and 2014
[15] Lese The Conscience of a Hacker, das auch als Hacker’s Manifesto bekannt ist.
Bildnachweis: (cc) dieKulturvermittlung
toller Artikel! Hat mich bis zum letzten Satz gefesselt!