Der Beruf eines Scribers

Wenn ich arbeite, kommen oft Leute auf mich zu und sagen mir, dass sie zum ersten Mal jemanden sehen, der so etwas macht und sie fragen mich, ob ich bereits zu Beginn wüsste, wie das Endergebnis ausschauen wird. Mein Job ist am Markt noch ziemlich unbekannt und ich muss meinen KundInnen häufig sagen, wie die Bezeichnung dafür ist. Mein Beruf ist der eines Scribers. Die offizielle Bezeichnung lautet Visual Facilitator und ich mache Visual Facilitation oder Graphic Recording. Dieser Beruf hat seinen Ursprung in den USA und kann etwa 40 Jahre zurückverfolgt werden, aber in Europa ist er erst in den letzten Jahren bekannt geworden und in Asien ist er noch immer sehr ungewohnt. Der Prozess von Visual Facilitation, Graphic Recording oder kurz gesagt Scribing, beinhaltet, dass ich während einer Gruppendiskussion, eines Brainstormings oder einer Konversation im Kontext eines Workshops oder Konferenz zuhöre, was die Leute sagen und simultan das Gesagte in meinem Kopf verknüpfe, eine Struktur finde und die Verbindung zwischen den gehörten Inhalten mit der Hilfe von Grafiken sichtbar mache. Mit der Hilfe von Grafiken verwandle ich die Rede in ein gezeichnetes Werk, in einem großen Maßstab und live. Es ist die Kunst komplexe Konzepte und Worte anhand von Illustrationen und Texten im Augenblick strukturiert zusammenzubringen.

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Tikka Hun arbeitet an einem Scribe.

Wunderst du dich, warum wir oft sagen, dass wir nicht „sehen“ was eine gewisse Sache bedeutet? In einer komplexen Gruppenkommunikation tendieren Leute zu glauben, dass sie über dasselbe sprechen, aber tatsächlich könnte das nicht der Fall sein. Wir sitzen in verschiedenen Meetings fest oder investieren Zeit und Geld, um Schlüsselpersonen in einem Workshop zusammenarbeiten zu lassen und trotzdem ist es möglich, dass das Resultat unserer Kommunikation nicht zur gewünschten Lösung führt. Wie würde sich das ändern, wenn wir plötzlich alle „sehen“ worüber wir sprechen? In einer Arbeitssitzung meinen KundInnen zu „sehen“ was bereits gesagt wurde. Mit Hilfe des Graphic Recordings „übersetze“ ich die gesprochenen Worte in visuelle Konzeptskizzen. Indem ich ihre Diskussionen oder Konversationen visualisiere, mache ich sie greifbar. Damit sorge ich, dass sie über dieselbe Realität sprechen und die Kommunikation in dieselbe Richtung geht. Wenn die Leute während einer Diskussion ihr Gesagtes als Grafik sehen können und sich auf diesen tangiblen Gegenstand stützen, könnten sie eine effektivere Gruppenkommunikation haben und dadurch ihren Denkprozess verbessern.

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Einige zweisprachige – Englisch und Chinesisch (Mandarin, Cantonese) – Grafiken von Tikka Hun, welche während der TEDxPetalingStreet 2014 in Kuala Lumpur, Malaysia gemacht wurden. Die behandelten Themen umfassen Radfahren in KL, ökologische Landwirtschaft in den Cameron Highlands, Hokkiensprachkenntnisse, die Magie des Regenwaldes, Malaysische Handperkussionen, der lokale Kaffeegeschmack etc.

Indem Visual Facilitation aus langen und komplexen Konversationen und Reden ein großes Bild macht, hilft es komplizierte Informationen zu verstehen und abzuspeichern. TeilnehmerInnen fühlen sich gehört, wenn ihre Worte festgehalten werden und das könnte auch ihr Engagement im Workshop verbessern. Hören + Sehen + Erfahren = Ein besseres Kommunikationsergebnis. Visual Facilitation erfasst den Workshop als ein Bild und erlaubt den TeilnehmerInnen zu sehen, woher sie kommen und was der nächste Schritt ist.

Schlussendlich macht Visual Facilitation aus einem Workshop ein visuelles und digitales Dokument „zum Mitnehmen“. Dadurch haben TeilnehmerInnen etwas, das sie daran erinnert und auf das sie sich in Zukunft beziehen können. Die Seele eines guten Scribe kommt von der Fähigkeit gut zuhören zu können. Der Prozess des Erfassens besteht gleichwertig aus Zeichnen und Schreiben, dennoch wurde dieser Beruf zu oft als Illustrieren oder sogar Comiczeichnen missverstanden. Scriber halten Inhalte fest, aber produzieren damit keine Kunst. Es geht nicht darum, wunderschöne Grafiken zu zeichnen, sondern die Grafik intelligent einzusetzen, um den Audioinhalt in ein Bild zu verwandeln, das „tausend Worte spricht“. (Tikka Hun übers. von Anna, dieKulturvermittlung, 02.07.2015)

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Tikka Hun ist die Gründerin des Kreativstudios TAK-TIK. Neben dem Anfertigen von Scribes organisiert sie mit ihrem Partner Valentin Boré Trainings und Kurse und veranstaltet Sessions Design für Facilitation Workshops die auf der MG Taylor© Methode basieren. Sie hat in mehr als 40 verschiedenen Ländern gelebt und gearbeitet und lebt derzeit wieder in ihrem Heimatland Malaysia. Die ultimative Reise für sie war ein einjähriger Aufenthalt im Borneonischen Jungle, wo sie ihre “Portrait von Borneo” Serie geschaffen hat, welche Bilder von wilden Orang-Uutans and Affen umfasst.



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